Brief des Aktionsnetzwerkes „Leipzig nimmt Platz“ an Chefredakteur der LVZ

Betreff: Berichterstattung Femizid an Myriam Z.

Sehr geehrter Herr Emendörfer,

wir – das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ – gehen hiermit gerne Ihrer Bitte nach und möchten Ihnen unsere Ansicht zur Berichterstattung über den Femizid an Myriam Z. mitteilen.

Für die gängigen Leser*innen der LVZ mag der Beitrag von Bettina Wilpert eine neuartige Perspektive geschafft haben, da Wilperts Ton dem Grundtenor Ihrer Tageszeitung nicht entspricht. Wir finden es großartig, dass Sie dennoch mit der Veröffentlichung von Wilperts Essay einen Versuch gewagt haben, einer äußerst qualifizierten, mehrfach renommierten und anerkannten Journalistin Stimme zu verleihen. Leider diffamieren Sie Wilpert und ihre Kompetenz in Ihrer Correctio an die Leser*innenschaft am 01.07.2020 und revidieren mit Aussagen wie „Wir tolerieren die Sicht der Autorin, was jedoch nicht heißt, dass wir die Sache in allen Teilen so sehen wie sie“. Mit dem Attribut ‚jung‘ implizieren Sie Inkompetenz und unterstellen der Schriftstellerin zudem, nicht „sachlich, objektiv und distanziert“ berichtet zu haben gemäß Ihrem Anspruch an die tägliche Berichterstattung, wie Sie es im letzten Abschnitt deutlich machen. Absurderweise ist eine solche Dreistigkeit nicht „sachlich, objektiv und distanziert“ sondern höchst hierarchisierend. Nicht nur der Umgang mit Bettina Wilpert ist zu kritisieren, vor allem, und das ist auch der Anlass für unseren Kommentar, Ihr dilettantischer Umgang mit struktureller Ungleichheit und historisch angelegten Machtverhältnissen im Patriarchat.

Zu einer verantwortungsvollen Berichterstattung gehört es auch, die Dinge bei ihren Namen zu nennen. Wenn Frauen*, trans*, inter-, nicht-binäre Personen und Queers wegen ihrer zugeschriebenen Andersartigkeit von Männern mit patriarchalen Privilegien ermordet werden, dann heißt das Femizid. Dass diese Gewalt kein Einzelfall wie bei Myriam Z. ist, beweisen fundierte Statistiken (nachzulesen hier: http://www.onebillionrising.de/femizid-opfer-meldungen-2019/). Daraus geht hervor, dass rein rechnerisch alle 72 Stunden ein Femizid in Deutschland begangen wird, wohlgemerkt ohne Einbezug der Dunkelziffer. In ihrer Correctio betonen Sie erneut die Motive der Männer, Ihrer Meinung nach geschehen diese „dutzende(n) Frauenmorde, weil Frauen nicht die ihnen von Männern zugedachte Rolle erfüllen wollen“. Mit solchen Aussagen reproduzieren Sie kulturelle Deutungsmuster von Frauen*diskriminierungen und verfestigen somit den strukturellen Sexismus in unserer Gesellschaft. Wir möchten Ihnen nicht unterstellen, unzureichend recherchiert zu haben, aber schauen Sie sich gerne die Definition des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen an: »Der Begriff „Femizid“ (femicidio) wurde insbesondere in Lateinamerika als hilfreiches Instrument begrüßt, um auf die alarmierende Eskalation äußerst brutaler Morde an Frauen und Mädchen reagieren zu können. Parallel dazu wurde das Wort „feminicidio“ (Feminizid) eingeführt, um das Element der Straflosigkeit und institutionellen Gewalt angesichts der mangelnden Rechenschaftspflicht und adäquaten Antwort des Staates auf dieses Phänomen zu erfassen.« (Auszug, https://eige.europa.eu/de/taxonomy/term/1128). Aus dieser Definition kann abgeleitet werden, dass die Motive von Femizidtätern nicht Gründe vorweisen, sondern vielmehr Struktur haben: die Morde entstehen nicht aus einem tieferen Hergang heraus, sondern sind Outputs der strukturellen Diskriminierung von Frauen*, die nach sozial geteilten und impliziten Geschlechtervorurteilen als minderwertig angesehen werden. Ihre Leugnung bzw. Ablehnung dieses Faktums nennt sich ‚moderner Sexismus‘ und baut zunehmend die sozialen Ungleichheiten und elitäre männliche Werte auf!

Mit der These “Medien sind keine Gerichte“ nehmen Sie sich selbst in Schutz und verleugnen Ihren Einfluss auf Diskurse und die Meinungsentwicklung vieler Ihrer Leser*innen. Als LVZ tragen Sie in jedem Ihrer Artikel immer die Verantwortung von Meinungsmacher*innen und Fokuslenker*innen. Sie weisen bereits bei der Auswahl der Themen, die Einzug in die Zeitung finden, und ebenso bei der Auswahl der Autor*innen, die diese Themen vorstellen bzw. von ihnen berichten, eine Richtung. Ein Bericht besitzt zwar den Anspruch auf Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit, doch sollte er vielmehr als eine von vielen möglichen Darstellungen eines Geschehens verstanden werden. Erst durch eine hohe Anzahl an Berichten von einem Geschehen, also durch die Vielfältigkeit der Berichterstattung, ergibt sich ein differenzierbares Bild von dem, was wohl geschah. Daher befürworten wir es sehr, dass Sie Autor*innen wie Bettina Wilpert einbeziehen, um eine Vielfältigkeit herzustellen.
Beim nächsten Mal, wenn es Kritik an Ihrer Auswahl der Autor*innen hagelt, sollten Sie vernünftig und ehrlich zu Ihrer Entscheidung stehen, Artikel unkommentiert lassen und erst recht nicht überholte kulturelle Deutungsmuster reproduzieren und sich somit für die Tradierung von Sexismen verantwortlich machen!

Sehr geehrter Herr Jan Emendörfer, tun Sie uns den Gefallen und bleiben Sie das nächste Mal einfach „sachlich, objektiv und distanziert“.

Mit freundlichen Grüßen
Das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“

Dokumentiert: Interview der LIZ mit Irena Rudolph-Kokot vom Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“

Bewohner und Funktionsträger der Stadt Leipzig machen es Legida zu einfach, seine menschenfeindlichen Ansichten zu verbreiten. Das behauptet das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“, das für kommenden Mittwoch, 16 Uhr, zur Kundgebung vor dem Neuen Rathaus aufruft. Im Interview mit der L-IZ spricht Irena Rudolph-Kokot (SPD) über eine Stadtgesellschaft, die sich klarer positionieren müsste. Und Ordnungsbehörden, die den Gegenprotest erschweren.

„Nein, Leipzig ist nicht weltoffen“ heißt es in der Pressemitteilung, die „Leipzig nimmt Platz“ anlässlich der geplanten Kundgebung am kommenden Mittwoch veröffentlicht hat. Warum ist Leipzig keine weltoffene Stadt?

Seit einem Jahr protestieren fast immer die gleichen Personen gegen Legida. Die gesamte Geschäftswelt hat es nicht geschafft, sich zu positionieren. Die meisten Aussagen zu den Protesten lauten: Das stört uns, das verursacht Verkehrseinschränkungen, wir kommen nicht nach Hause oder zum Einkaufen. Es findet keine Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Es ist zwar schön, dass in Leipzig nicht sehr viele Menschen zu Legida gehen, jedoch wird der Alltagsrassismus immer deutlicher spürbar: Bei den Anwohnerversammlungen zu neuen Unterkünften für Geflüchtete entlädt sich diese Stimmung. Zudem beobachten wir, dass die Gegenproteste zunehmend durch Stadt und Polizei eingeschränkt werden.

Woran liegt es konkret, dass teilweise nur wenige hundert Menschen an den Gegendemonstrationen teilnehmen?

Das hat verschiedene Gründe. Neben Ermüdungserscheinungen hängt es sehr davon ab, wie viele Studenten in der Stadt sind und ob gerade Prüfungszeit ist. Der Anteil der jungen Leute ist sehr hoch. Manche wollen nach den Ereignissen am 11. Januar lieber in Connewitz bleiben. Andere denken über alternative Protestformen nach. Nicht zu vergessen sind die Repressionen, die wir seit einem Jahr erfahren. Wenn man schon mehrere Anzeigen erhalten oder häufig Polizeigewalt erlebt hat, hat man keine Lust mehr.

Bevorzugt die Polizei Legida? Sympathisiert sie gar damit?

Man kann nicht sagen, dass eine ganze Behörde mit Legida sympathisiert. Aber ich habe den Eindruck, dass einzelne Beamtinnen und Beamte positive Gefühle dazu haben. Man sieht immer wieder, wie sich Polizisten und Legida-Teilnehmer per Handschlag begrüßen. Es ist auch erstaunlich, dass Auflagen bei Legida nicht kontrolliert werden, zum Beispiel die Angelruten oder Blendtaschenlampen. Bei der letzten Kundgebung beschwerte sich ein Legida-Teilnehmer bei der Polizei, woraufhin sofort gegen eine von uns angemeldete Kundgebung durchgegriffen wurde, obwohl eigentlich nichts passiert ist. Das bringt einen schon zum Nachdenken.

Und wie sieht es beim Ordnungsamt aus?

Da habe ich das Gefühl, dass man sich Dresden als Vorbild genommen hat, wo die Proteste so beauflagt werden, dass sie weit weg vom eigentlichen Geschehen bei Pegida stattfinden. In Leipzig wird der Protest in Hör- und Sichtweite immer mehr eingeschränkt. Wir haben mittlerweile nur noch den Berührungspunkt auf dem Refugees-Welcome-Platz [Anm. d. Red.: Richard-Wagner-Platz].

Ist das Ordnungsamt durch die hohe Anzahl an Demonstrationen, insbesondere von und gegen Legida, vielleicht einfach überfordert?

Das spielt natürlich eine Rolle. Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist begrenzt. Allerdings verlässt man sich sehr auf die Einschätzungen vom Verfassungsschutz und der Polizei. Man macht sich mittlerweile zu wenig Gedanken darüber, was eigentlich möglich ist, um so viel Protest wie möglich auf die Straße zu bringen. Man versucht, eher den restriktiven Ansatz zu fahren. Oberste Priorität hat die totale Sicherheit. Dabei gibt es die sowieso nicht.

Hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert, zum Beispiel im Vergleich zu den Neonaziaufmärschen in den Jahren 2009 bis 2011?

Damals hatten wir einen anderen Polizeipräsidenten, der Freiräume für friedliche Protestaktionen zugelassen hat. Diese Freiräume sind heute überhaupt nicht mehr gegeben. Auch das frustriert die Protestierenden.

Kurz vor der jüngsten Legida-Kundgebung Anfang Februar hat das Aktionsnetzwerk einen offenen Brief an Oberbürgermeister Burkhard Jung, Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal und Polizeipräsident Bernd Merbitz veröffentlicht. Darin wurden unter anderem die Weitergabe von Polizeiinterna an Neonazis, Beleidigungen durch Beamte und die „faktische Demonstration“ der Legida-Teilnehmer vom Hauptbahnhof zum Richard-Wagner-Platz kritisiert. Gab es darauf irgendeine Reaktion?

Es wird noch vor der nächsten Legida-Demonstration ein Gespräch beim Oberbürgermeister stattfinden. Dazu sind auch Anmelder von anderen Gegenkundgebungen eingeladen, zum Beispiel Frank Kimmerle [Anm. d. Red.: Geschäftsführer des Erich-Zeigner-Hauses].

Teil zwei:

Bewohner und Funktionsträger der Stadt Leipzig machen es Legida zu einfach, seine menschenfeindlichen Ansichten zu verbreiten. Das behauptet das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“, das für kommenden Mittwoch, 16 Uhr, zur Kundgebung vor dem Neuen Rathaus aufruft. Im zweiten Teil des Interviews mit der L-IZ spricht Irena Rudolph-Kokot (SPD) über die jüngsten Vorfälle in Clausnitz und Bautzen, die Rolle der sächsischen Landesregierung und die Voraussetzungen für das Prädikat „weltoffen“.

Seit „Leipzig nimmt Platz“ seine Pressemitteilung mit der Demoankündigung veröffentlicht hat, haben sich die rassistischen Ereignisse in Sachsen überschlagen. In Clausnitz wurden Geflüchtete von einem pöbelnden Mob bedroht und einzelne Personen, darunter Kinder, gewaltsam von der Polizei in die Unterkunft geschleift. In Bautzen brannte ein geplantes Heim; Passanten sollen dies lautstark bejubelt und beklatscht sowie den Einsatz der Feuerwehr behindert haben. Nun wird klar, es handelt sich um Brandstiftung.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Berichte über solche Ereignisse verfolgen?

Diese Wut muss man erst einmal verarbeiten. In Sachsen ereignet sich so etwas leider fast jeden Tag. Die Ereignisse in Clausnitz haben eine neue Dimension mit bundesweiter Ausstrahlung, weil dort das Handeln eines Polizisten zu sehen war. Auch die anschließende Pressekonferenz der Polizei sorgte für Empörung, weil dort nicht ansatzweise Einsicht oder Wille zur Aufarbeitung erkennbar waren. Es handelt sich hierbei um ein strukturelles Problem in Sachsen. Gerade die Sicherheitsbehörden scheinen auf dem rechten Auge blind zu sein. Innenminister Markus Ulbig hat das nicht im Griff.

In Ihrer Funktion als stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt forderten Sie Ulbig (CDU) kürzlich zum Rücktritt auf. Eine Koalition, die durch die „Unfähigkeit ihres Innenministers belastet“ werde, sei aus Ihrer Sicht „nicht haltbar“. Falls Ulbig im Amt bleiben darf, muss die sächsische SPD die Koalition dann verlassen?

Wir als Bundesgremium sehen nach Ereignissen wie in Freital und Heidenau keinen Spielraum für eine weitere Zusammenarbeit mit dem Innenminister. Deshalb haben wir diese Aussage formuliert. Die Entscheidung liegt natürlich bei der SPD in Sachsen.

Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) bezeichnete die Taten in Clausnitz und Bautzen als „widerlich“ und „abscheulich“. Das sind erfreulich klare Worte, oder?

Das Problem bei ihm ist, dass die Reaktionen immer sehr spät und vermutlich nur auf äußeren Druck erfolgen. Daher kann ich diese Äußerungen und jene zu anderen Vorfällen nicht mehr ernst nehmen. Ich hätte mir gewünscht, dass er sich über das Vorgehen der Polizei entsetzt zeigt und Aufklärung fordert. Das wären klare Worte gewesen.

Nicht nur, aber vor allem in Sachsen scheint sich die Lage immer mehr zuzuspitzen. Wachsen da nicht die Zweifel, ob das Engagement überhaupt etwas zum Besseren verändert?

Nein, denn offensichtlich ist Sachsen mit dieser Entwicklung relativ isoliert. Wir müssen es schaffen, den Fokus der anderen Bundesländer und des Bundes stärker auf Sachsen zu richten. Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, ist die Bundesregierung dazu aufgefordert, politischen Druck auszuüben.

Welche konkreten Möglichkeiten hat die Bundesregierung dabei?

Im Bund und in Sachsen regieren dieselben Parteien. Darüber lässt sich ein gewisser Druck ausüben. Aber auch über die zuständigen Minister: Ich erhoffe mir sehr viel von Bundesjustizminister Heiko Maas, der demnächst die Justizminister der Länder zusammenrufen wird, um über das Thema Rechtsextremismus zu reden. Ich wünsche mir ein klares Zeichen, solche Straftaten schneller aufzuklären, dem sich dann hoffentlich auch Sachsen anschließen wird. So kann man das auch in anderen Ressorts handhaben. Auch die Innenminister könnten sich auf einen gemeinsamen Weg machen, was die Übergriffe und den Umgang mit Geflüchteten betrifft. Von Bundesinnenminister Thomas de Maizière erwarte ich allerdings nichts.

Kommen wir zum Ausgangspunkt des Interviews zurück: Leipzig sei keine weltoffene Stadt. Was müsste passieren, damit Leipzig zu einer weltoffenen Stadt wird?

Ich wünsche mir, dass sich alle zivilgesellschaftlichen Kräfte klar positionieren und menschenverachtende Ansichten in der Stadt gar keinen Platz haben. Eine solche Positionierung muss sich durch die gesamte Stadtgesellschaft ziehen, doch so etwas
fehlt bislang. Das betrifft nicht nur die Geschäftsleute, sondern auch andere Akteure, die sich positionieren könnten. Der Einzige, der regelmäßig Haltung zeigt, ist der Oberbürgermeister. Bei den anderen Bürgermeistern vermisse ich das.


Quellen:

Bewohner und Funktionsträger der Stadt Leipzig machen es Legida zu einfach, seine menschenfeindlichen Ansichten zu verbreiten. Das behauptet das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“, das für kommenden Mittwoch, 16 Uhr, zur Kundgebung vor dem Neuen Rathaus aufruft. Im Interview mit der L-IZ spricht Irena Rudolph-Kokot (SPD) über eine Stadtgesellschaft, die sich klarer positionieren müsste. Und Ordnungsbehörden, die den Gegenprotest erschweren.

„Nein, Leipzig ist nicht weltoffen“ heißt es in der Pressemitteilung, die „Leipzig nimmt Platz“ anlässlich der geplanten Kundgebung am kommenden Mittwoch veröffentlicht hat. Warum ist Leipzig keine weltoffene Stadt?

Seit einem Jahr protestieren fast immer die gleichen Personen gegen Legida. Die gesamte Geschäftswelt hat es nicht geschafft, sich zu positionieren. Die meisten Aussagen zu den Protesten lauten: Das stört uns, das verursacht Verkehrseinschränkungen, wir kommen nicht nach Hause oder zum Einkaufen. Es findet keine Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Es ist zwar schön, dass in Leipzig nicht sehr viele Menschen zu Legida gehen, jedoch wird der Alltagsrassismus immer deutlicher spürbar: Bei den Anwohnerversammlungen zu neuen Unterkünften für Geflüchtete entlädt sich diese Stimmung. Zudem beobachten wir, dass die Gegenproteste zunehmend durch Stadt und Polizei eingeschränkt werden.

Woran liegt es konkret, dass teilweise nur wenige hundert Menschen an den Gegendemonstrationen teilnehmen?

Das hat verschiedene Gründe. Neben Ermüdungserscheinungen hängt es sehr davon ab, wie viele Studenten in der Stadt sind und ob gerade Prüfungszeit ist. Der Anteil der jungen Leute ist sehr hoch. Manche wollen nach den Ereignissen am 11. Januar lieber in Connewitz bleiben. Andere denken über alternative Protestformen nach. Nicht zu vergessen sind die Repressionen, die wir seit einem Jahr erfahren. Wenn man schon mehrere Anzeigen erhalten oder häufig Polizeigewalt erlebt hat, hat man keine Lust mehr.

Bevorzugt die Polizei Legida? Sympathisiert sie gar damit?

Man kann nicht sagen, dass eine ganze Behörde mit Legida sympathisiert. Aber ich habe den Eindruck, dass einzelne Beamtinnen und Beamte positive Gefühle dazu haben. Man sieht immer wieder, wie sich Polizisten und Legida-Teilnehmer per Handschlag begrüßen. Es ist auch erstaunlich, dass Auflagen bei Legida nicht kontrolliert werden, zum Beispiel die Angelruten oder Blendtaschenlampen. Bei der letzten Kundgebung beschwerte sich ein Legida-Teilnehmer bei der Polizei, woraufhin sofort gegen eine von uns angemeldete Kundgebung durchgegriffen wurde, obwohl eigentlich nichts passiert ist. Das bringt einen schon zum Nachdenken.

Und wie sieht es beim Ordnungsamt aus?

Da habe ich das Gefühl, dass man sich Dresden als Vorbild genommen hat, wo die Proteste so beauflagt werden, dass sie weit weg vom eigentlichen Geschehen bei Pegida stattfinden. In Leipzig wird der Protest in Hör- und Sichtweite immer mehr eingeschränkt. Wir haben mittlerweile nur noch den Berührungspunkt auf dem Refugees-Welcome-Platz [Anm. d. Red.: Richard-Wagner-Platz].

Ist das Ordnungsamt durch die hohe Anzahl an Demonstrationen, insbesondere von und gegen Legida, vielleicht einfach überfordert?

Das spielt natürlich eine Rolle. Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist begrenzt. Allerdings verlässt man sich sehr auf die Einschätzungen vom Verfassungsschutz und der Polizei. Man macht sich mittlerweile zu wenig Gedanken darüber, was eigentlich möglich ist, um so viel Protest wie möglich auf die Straße zu bringen. Man versucht, eher den restriktiven Ansatz zu fahren. Oberste Priorität hat die totale Sicherheit. Dabei gibt es die sowieso nicht.

Hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert, zum Beispiel im Vergleich zu den Neonaziaufmärschen in den Jahren 2009 bis 2011?

Damals hatten wir einen anderen Polizeipräsidenten, der Freiräume für friedliche Protestaktionen zugelassen hat. Diese Freiräume sind heute überhaupt nicht mehr gegeben. Auch das frustriert die Protestierenden.

Kurz vor der jüngsten Legida-Kundgebung Anfang Februar hat das Aktionsnetzwerk einen offenen Brief an Oberbürgermeister Burkhard Jung, Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal und Polizeipräsident Bernd Merbitz veröffentlicht. Darin wurden unter anderem die Weitergabe von Polizeiinterna an Neonazis, Beleidigungen durch Beamte und die „faktische Demonstration“ der Legida-Teilnehmer vom Hauptbahnhof zum Richard-Wagner-Platz kritisiert. Gab es darauf irgendeine Reaktion?

Es wird noch vor der nächsten Legida-Demonstration ein Gespräch beim Oberbürgermeister stattfinden. Dazu sind auch Anmelder von anderen Gegenkundgebungen eingeladen, zum Beispiel Frank Kimmerle [Anm. d. Red.: Geschäftsführer des Erich-Zeigner-Hauses].

Teil zwei:

Bewohner und Funktionsträger der Stadt Leipzig machen es Legida zu einfach, seine menschenfeindlichen Ansichten zu verbreiten. Das behauptet das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“, das für kommenden Mittwoch, 16 Uhr, zur Kundgebung vor dem Neuen Rathaus aufruft. Im zweiten Teil des Interviews mit der L-IZ spricht Irena Rudolph-Kokot (SPD) über die jüngsten Vorfälle in Clausnitz und Bautzen, die Rolle der sächsischen Landesregierung und die Voraussetzungen für das Prädikat „weltoffen“.

Seit „Leipzig nimmt Platz“ seine Pressemitteilung mit der Demoankündigung veröffentlicht hat, haben sich die rassistischen Ereignisse in Sachsen überschlagen. In Clausnitz wurden Geflüchtete von einem pöbelnden Mob bedroht und einzelne Personen, darunter Kinder, gewaltsam von der Polizei in die Unterkunft geschleift. In Bautzen brannte ein geplantes Heim; Passanten sollen dies lautstark bejubelt und beklatscht sowie den Einsatz der Feuerwehr behindert haben. Nun wird klar, es handelt sich um Brandstiftung.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Berichte über solche Ereignisse verfolgen?

Diese Wut muss man erst einmal verarbeiten. In Sachsen ereignet sich so etwas leider fast jeden Tag. Die Ereignisse in Clausnitz haben eine neue Dimension mit bundesweiter Ausstrahlung, weil dort das Handeln eines Polizisten zu sehen war. Auch die anschließende Pressekonferenz der Polizei sorgte für Empörung, weil dort nicht ansatzweise Einsicht oder Wille zur Aufarbeitung erkennbar waren. Es handelt sich hierbei um ein strukturelles Problem in Sachsen. Gerade die Sicherheitsbehörden scheinen auf dem rechten Auge blind zu sein. Innenminister Markus Ulbig hat das nicht im Griff.

In Ihrer Funktion als stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt forderten Sie Ulbig (CDU) kürzlich zum Rücktritt auf. Eine Koalition, die durch die „Unfähigkeit ihres Innenministers belastet“ werde, sei aus Ihrer Sicht „nicht haltbar“. Falls Ulbig im Amt bleiben darf, muss die sächsische SPD die Koalition dann verlassen?

Wir als Bundesgremium sehen nach Ereignissen wie in Freital und Heidenau keinen Spielraum für eine weitere Zusammenarbeit mit dem Innenminister. Deshalb haben wir diese Aussage formuliert. Die Entscheidung liegt natürlich bei der SPD in Sachsen.

Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) bezeichnete die Taten in Clausnitz und Bautzen als „widerlich“ und „abscheulich“. Das sind erfreulich klare Worte, oder?

Das Problem bei ihm ist, dass die Reaktionen immer sehr spät und vermutlich nur auf äußeren Druck erfolgen. Daher kann ich diese Äußerungen und jene zu anderen Vorfällen nicht mehr ernst nehmen. Ich hätte mir gewünscht, dass er sich über das Vorgehen der Polizei entsetzt zeigt und Aufklärung fordert. Das wären klare Worte gewesen.

Nicht nur, aber vor allem in Sachsen scheint sich die Lage immer mehr zuzuspitzen. Wachsen da nicht die Zweifel, ob das Engagement überhaupt etwas zum Besseren verändert?

Nein, denn offensichtlich ist Sachsen mit dieser Entwicklung relativ isoliert. Wir müssen es schaffen, den Fokus der anderen Bundesländer und des Bundes stärker auf Sachsen zu richten. Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, ist die Bundesregierung dazu aufgefordert, politischen Druck auszuüben.

Welche konkreten Möglichkeiten hat die Bundesregierung dabei?

Im Bund und in Sachsen regieren dieselben Parteien. Darüber lässt sich ein gewisser Druck ausüben. Aber auch über die zuständigen Minister: Ich erhoffe mir sehr viel von Bundesjustizminister Heiko Maas, der demnächst die Justizminister der Länder zusammenrufen wird, um über das Thema Rechtsextremismus zu reden. Ich wünsche mir ein klares Zeichen, solche Straftaten schneller aufzuklären, dem sich dann hoffentlich auch Sachsen anschließen wird. So kann man das auch in anderen Ressorts handhaben. Auch die Innenminister könnten sich auf einen gemeinsamen Weg machen, was die Übergriffe und den Umgang mit Geflüchteten betrifft. Von Bundesinnenminister Thomas de Maizière erwarte ich allerdings nichts.

Kommen wir zum Ausgangspunkt des Interviews zurück: Leipzig sei keine weltoffene Stadt. Was müsste passieren, damit Leipzig zu einer weltoffenen Stadt wird?

Ich wünsche mir, dass sich alle zivilgesellschaftlichen Kräfte klar positionieren und menschenverachtende Ansichten in der Stadt gar keinen Platz haben. Eine solche Positionierung muss sich durch die gesamte Stadtgesellschaft ziehen, doch so etwas
fehlt bislang. Das betrifft nicht nur die Geschäftsleute, sondern auch andere Akteure, die sich positionieren könnten. Der Einzige, der regelmäßig Haltung zeigt, ist der Oberbürgermeister. Bei den anderen Bürgermeistern vermisse ich das.


Quellen: