Pressemitteilung des Aktionsnetzwerks „Leipzig nimmt Platz“
Die Folgen des 1. Mai
Am 1. Mai 2023 wurden mehr als 100 Personen, die sich an den Protesten gegen einen Aufzug von Rechtsradikalen beteiligten, erkennungsdienstlich behandelt. Nach Auswertung der Gedächtnisprotokolle und Videoaufnahmen lässt sich feststellen, dass ein Großteil der Maßnahmen rechtswidrig war. Unter den Betroffenen waren auch Jugendliche, von denen ohne Einverständnis der Eltern Bilder angefertigt wurden, ein Pressevertreter, der kein Demonstrationsteilnehmer war und deswegen gar nicht hätte behandelt werden dürfen.
Dazu erklärt Jürgen Kasek, Jurist, für das Netzwerk: „Auch eine sogenannte Sitzblockade kann unter den Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit fallen, wie das Bundesverfassungsgericht und etwa auch das OVG in Münster immer wieder betont haben. Entweder hätte daher beim Versuch die Versammlung anzumelden, den es unbestritten gab, diese nach § 15 SächsVersG beauflagt oder aufgelöst werden müssen, was nicht geschehen ist. Wenn die Behörde zur Einschätzung kommt, dass es keine Versammlung ist, wäre es als unerlaubte Ansammlung zu werten, nach §113 OWiG, mit dem Ergebnis, dass es eine 3dreimalige Aufforderung zur Entfernung hätte geben müssen, die es ebenfalls nicht gab. Das ganze Vorgehen war nach rechtsstaatlichen Grundsätzen problematisch.“
Irena Rudolph-Kokot ergänzt für „Leipzig nimmt Platz“: „Unser Eindruck ist, dass hier mit repressiven Mitteln einmal mehr ein Exempel statuiert werden sollte, um die Proteste gegen einen Aufzug von Rechtsradikalen und Reichsbürgern zu kriminalisieren. Dies ordnet sich ein in eine Welle der Repression gegen Klimaschützer*innen und aktive Demokrat*innen, die sich antifaschistisch engagieren und gegen rechte Aufzüge protestieren. Ganz offensichtlich arbeiten hier die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt nicht an der Aufklärung von Straftaten, sondern betätigen sich als Gesinnungsjustiz, die in einer Demokratie notwendigen Widerspruch gegen Rechtsextremismus versucht zu kriminalisieren. Klagen gegen dieses rechtswidrige Vorgehen sind notwendig.“
Auswertung des 1. Mai 2023 in Leipzig.
Nach der Auswertung mehrerer Gedächtnisprotokolle lässt sich das Geschehen folgend rekonstruieren.
Sachverhalt: Kurz nach 17 Uhr sammelte sich der Aufzug der „Patriotischen Stimme Deutschlands“ auf der südlichen Seite des Augustusplatzes und machte sich abmarschbereit. Es handelt sich dabei um ca. 70 Personen, die zum Teil nicht aus Leipzig kommen. Darunter sind Vertreter aus Thüringen, sowie mehrere einschlägig vorbestrafte Neonazis. Ein Teilnehmer trägt einen Pullover mit der Aufschrift „Auch ohne Sonne braun“. Bereits gegen 16 Uhr hatte sich eine ca. 20 Personen große Gruppe auf dem Augustusplatz eingefunden und neben Reichsfahnen auch mindestens eine NPD-Fahne mitgeführt.
Bereits kurz vor 18 Uhr kam es in der Prager Str. zu einer Sitzblockade, die allerdings nach einer Ermahnung durch die Teilnehmenden selbstständig aufgelöst wurde.
Gegen 18 Uhr bildete sich eine zweite Sitzblockade auf Höhe Prager Str. / Talstraße mit ca. 100 Personen. Polizei war zu diesem Zeitpunkt nicht vor Ort. Gegen 18:20 Uhr wurden die auf der Straße sitzenden Personen von mehreren BFE-Beamten kommentarlos abgefilmt. Aufforderungen, die Straße zu verlassen, erfolgten nicht. Die Versammlungsbehörde war nicht vor Ort. Gegen 18:30 erfolgte die Entscheidung, dass die rechte Demonstration wieder umkehrt. Gleichzeitig näherten sich mehrere Züge der Bereitschaftspolizei und begannen die Sitzenden zu umschließen.
Eine Person versuchte daraufhin die Versammlung bei der Versammlungsbehörde anzumelden. Die Versammlungsbehörde war zwar mit zwei Personen vor Ort und nahm die Versammlung auf, geht dann aber plötzlich.
Nachdem gegen 18:40 Uhr weitere Züge der Bereitschaftspolizei eintrafen und es unklar war, ob die Versammlung angemeldet werden konnte und wie der rechtliche Status war, versuchten mehrere Personen den Bereich zu verlassen und wurden von den Beamten wieder in den Kessel zurückgeschickt. Weiterhin gegen 18:40 Uhr erfolgte die Durchsage der Polizei, dass sich die Personen strafbar gemacht hätten und nunmehr Maßnahmen der Identitätsfeststellung erfolgen sollen. Eine Aufforderung sich zu entfernen und die Straße zu räumen hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben.
Die Maßnahmen starteten schließlich gegen 19:10/19:20 Uhr. Die Teilnehmenden berichten übereinstimmend, dass sie keine Kenntnis vom rechtlichen Zustand der Versammlung hatten. Offenbar wurde die Person, die anmelden wollte, durch die Versammlungsbehörde vertröstet bzw. hingehalten.
Ein Beamter gab im Gespräch mit einer betroffenen Person an, dass offenbar bereits nach der ersten Sitzversammlung vorher, durch die Versammlungsbehörde die Entscheidung gefallen sei, jede weitere Sitzversammlung als Verhinderungsblockade und Straftat zu bewerten. Verschiedentlich wurde den Betroffenen unterstellt, dass sie ja bereits vorher an einer Versammlung teilgenommen hätten und es daher keiner weiteren Aufforderung zur Entfernung bedurfte.
Die Polizeibeamt*innen räumten ein, dass es keine Aufforderung zur Entfernung gegeben hatte. Im Anschluss wurden von allen Personen die Personalien aufgenommen, wobei mindestens zwei Personen Handschellen angelegt wurden. Zusätzlich wurden Fotos gefertigt. Eine Begründung dafür erfolgte nicht, es handle sich um Vergleichsfotos. Dabei wurden auch Fotos von Minderjährigen gemacht, gegen deren ausdrücklichen Willen, ohne dass die Erziehungsberechtigten vorab informiert wurden.
Nach Durchführung der Maßnahmen wurden den Personen zudem Platzverweise ausgesprochen, und zwar ab 20 Uhr und damit zu einem Zeitpunkt, indem bereits klar war, dass keine andere Versammlung an diesem Tage mehr stattfinden würde. Die Platzverweise waren zum Teil auf das komplette Gebiet der Innenstadt beschränkt, zum Teil auch nur auf einen Bereich aus 200 m am Ring. Ein einheitliches Vorgehen scheint es nicht gegeben zu haben. Während der Maßnahme waren auch Beamte mit Maschinenpistole anwesend.
Rechtliche Bewertung:
Eine Versammlung liegt nach dem sächsischen Versammlungsgesetz vor, als Ausformung des Gesetzesvorbehaltes von Art. 8 II GG vor, wenn mindestens 2 Personen mit dem Ziel der gemeinsamen Meinungskundgabe zusammenkommen.
Die rechtliche Bewertung von Sitzblockaden hängt sehr stark von den genauen Umständen des Einzelfalls ab und reicht von völlig legal über die Begehung einer Ordnungswidrigkeit bis hin zur Begehung einer Straftat. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied 2011, dass Sitzblockaden grundsätzlich eine friedliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Kundgebungen sein können, die als solche in den Schutzbereich des Grundrechts der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 Absatz 1 Grundgesetz (GG) fallen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. März 2011 – Az.: 1 BvR 388/05). Dieser Schutz endet grundsätzlich, wenn es bei der Versammlung zu kollektiver Unfriedlichkeit kommt, was nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch noch nicht allein dadurch vorliege, dass „es zu
Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen“ (ebd.).
Der Schutz der Versammlungsfreiheit endet ferner mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (bzw. Sitzblockade), was nach § 15 Absatz 3 Versammlungsgesetz (VersG) den Erlass einer Auflösungsverfügung durch die zuständige Behörde (in aller Regel die Ordnungs- bzw. Polizeibehörde) voraussetzt (siehe Details unten). Wer nach der Auflösung und (oftmals mehrfacher) Aufforderung, sich zu erheben und den Ort zu verlassen, weiterhin an der Sitzblockade teilnimmt, überschreitet in der Regel zumindest die Grenze zur Begehung einer Ordnungswidrigkeit.
In einem vergleichbaren Fall 2016 hatte die Versammlungsbehörde zunächst beschieden, dass nur eine Straßenseite genutzt werden dürfe und dann mehrfach durchgesagt, dass die Personen die Straße verlassen sollten. Im Nachgang wurden dann annähernd 140 Verfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz als Ordnungswidrigkeit behandelt.
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die zum Teil nur eine Ordnungswidrigkeit angenommen hatte und in einigen wenigen Fällen bei Vorstrafen von einer Straftat ausgegangen war, hatte das Landgericht Leipzig scharf gerügt. Auch das Verwaltungsgericht Leipzig hatte das Vorgehen kritisiert, da vor Ort unklar blieb, ob die Versammlung aufgelöst wurde oder nur mit Auflagen beschieden wurde.
Aktuell hat es zu keinem Zeitpunkt eine rechtlich nachvollziehbare Bewertung gegeben. Selbst, wenn die Versammlungsbehörde davon ausgeht, dass keine Versammlung vorliegt, muss dies den Teilnehmenden mitgeteilt werden, damit diese im Einzelfall die Möglichkeit haben, sich zu entfernen. Eine grobe Störung einer angemeldeten und nicht verbotenen Versammlung lag zum genannten Zeitpunkt nicht mehr vor, da die rechte Demonstration bereits vorher umgekehrt war und die Umschließung erst erfolgte, nachdem diese bereits umgekehrt war.
Auch die erteilten Platzverweise sind bei rechtlicher Bewertung nicht haltbar. Platzverweise sind eine Maßnahme der Gefahrenabwehr, geregelt im SächsPVDG. Sie müssen zeitlich und örtlich begrenzt sein und dienen zur Abwehr einer akuten Gefahr. Grundsätzlich kommt zwar bei Versammlungslagen auch der Ausspruch von Platzverweisen in Betracht, allerdings nur solange eine Gefahr besteht. Zum maßgeblichen Zeitpunkt war aber auch die zweite Versammlung am Augustusplatz bereits beendet, sodass sich eine Gefahr nicht ohne weiteres begründen lässt.
Grundlage für die Fotoaufnahmen können § 81b und § 100h StPO sein. Dann müsste es sich um Bildaufnahmen handeln, die für das Strafverfahren oder die erkennungsdienstliche Behandlung notwendig sind. Soweit die Betroffenen sich ausweisen können, scheiden aus Gründen der Verhältnismäßigkeit weitere Maßnahmen zur Identitätsfeststellung (erkennungsdienstliche Behandlung) aus. Auch hinsichtlich des Strafverfahrens bestehen erhebliche Zweifel, da die Personen alle in einem Kessel angetroffen wurden und dort bereits videografisch in der Gruppe festgehalten wurden. Auf Einzelbildaufnahmen, die zudem ein Grundrechtseingriff sind, kommt es an dieser Stelle nicht mehr an.
Weiterhin sind erkennungsdienstliche Maßnahmen bei Minderjährigen, ohne die Eltern einzubeziehen, rechtswidrig. Diese kommen nur dann auch gegen den Willen des Minderjährigen in Betracht, wenn die Erziehungsberechtigten nicht zu erreichen sind. Dann sind diese allerdings unverzüglich danach in Kenntnis zu setzen. Auch dies ist nicht passiert.
Fazit:
Unterstellt man, dass Maßnahmen der Strafverfolgung nur in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft zustande kommen, wird man festhalten müssen, dass es nach dem konkreten Geschehensablauf offenbar das Ziel war, hier die Betroffenen auf rechtlich fragwürdiger Grundlage Maßnahmen zu unterziehen. Offenbar war auch das LKA einbezogen.
Weder gab es eine Aufforderung zur Entfernung von der Versammlung, noch wurde durch die Versammlungsbehörde oder Polizei klar kommuniziert, dass die Personen auf der Straße aktuell eine Straftat begingen. Die Anwendung der Grundregeln des Versammlungsrechts wurden gänzlich missachtet.
Da mindestens ein Pressevertreter mit entsprechendem Ausweis ebenfalls einer Maßnahme unterzogen wurde, wurde zudem auch Art. 5 Abs 3 GG verletzt.
In rechtlicher Hinsicht stellt das Vorgehen der Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft (Polizei) und der Versammlungsbehörde einen Grundrechtsbruch in ungewöhnlich großem Ausmaß dar. Der Verdacht, dass es hier vor allen Dingen um Maßnahmen der Abschreckung ging, drängt sich förmlich auf und ordnet sich der Aussage zu, die der Leiter des Landeskriminalamtes getroffen hat, und zwar, dass man verstärkt gegen „Linksextremismus“ vorgehen wolle.
Rechtlich betrachtet war das Vorgehen in vielerlei Hinsicht ein Offenbarungseid.