Pressemitteilung: Ein Tag im Juni 2023 und seine Folgen #le0306

Der Hintergrund

Am 3. Juni 2023, nach dem erstinstanzlichen Urteil im Fall Lina E., sollte eine Demonstration als Reaktion auf das Urteil und den Umgang mit dem Verfahren stattfinden. Die Stadt Leipzig erließ eine Allgemeinverfügung, mit der alle Versammlungen verboten wurden, die nicht bis zum 31. Mai 2023 angemeldet wurden. Auch die sogenannte „Tag X“-Demonstration sowie jegliche Proteste im Zusammenhang mit dem Urteil wurden untersagt. Als Begründung dienten pauschale Gefahrenprognosen und Unterstellungen von Gewalt, ohne dass Anmelder*innen Gelegenheit zur Prüfung oder Stellungnahme erhielten.

Demonstrationsanmeldung durch den Say it loud e. V.

Der Verein „Say it loud e. V.“ meldete daraufhin eine eigene Demonstration an – zum Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Diese sollte ursprünglich vom Alexis-Schumann-Platz durch die Innenstadt führen und wurde nicht verboten.

Parallel legten die Anmelder*innen der „Tag X“-Demonstration Rechtsmittel gegen das Verbot ein. Verwaltungsgericht Leipzig, OVG Bautzen und schließlich – am Tag der Demo – das Bundesverfassungsgericht bestätigten das Verbot oder ließen wegen Zeitmangels keine tiefgehende Prüfung zu. Die Entscheidung aus Karlsruhe kam 1,5 Stunden vor Versammlungsbeginn.

Die Falle

Trotz positiven Bescheides für die Versammlung des Say it loud e. V. wurde diese zur Falle. Die Polizei zog mit einem bundesweiten Großaufgebot auf. Schon vor Beginn wurde der Versammlungsort eingekesselt, zentrale Zugänge wurde versperrt. Ab ca. 17 Uhr wurde dem Versammlungsleiter mitgeteilt, dass 100 Personen – angeblich dem „schwarzen Block“ zugehörig – auf dem Weg seien, was zum Ausschluss eines Demonstrationszugs führen würde. Kurz darauf blockierten Wasserwerfer und Polizeiketten den gesamten Aufzug.

Die Lage eskalierte: Alternative Routen wurden abgelehnt, Gespräche mit der Versammlungsbehörde blieben erfolglos. Ein Deli-Plenum sollte die Versammlung retten – bis es bei einem Ausbruchsversuch zu Gewalt kam. Danach wurde der untere Teil der Versammlung auf Höhe des Heinrich-Schütz-Platzes vollständig umstellt.

Die Folgen: Repression auf ganzer Linie

Über 1.200 Menschen wurden stundenlang in Gewahrsam genommen – darunter auch Minderjährige. Eltern wurden teils nicht informiert, Anwält*innen nicht zu den Klient*innen gelassen. Es gab während des … (11?) Stunden dauernden Kessels für viele der Betroffenen keine Möglichkeit, ihre Notdurft zu verrichten, zu essen, zu trinken, dafür aber reihenweise Erniedrigungen. Später wurde bekannt, dass verdeckte Ermittler eingesetzt wurden – ohne gesetzlich vorgeschriebene Kennzeichnung. Ein vermummter Staatsanwalt erschien unangekündigt am Ort des Geschehens. Die Absicht war offensichtlich: Eskalation und Einschüchterung statt Schutz von Grundrechten.

Kriminalisierung der Versammlungsteilnehmer*innen

Gegen alle Eingekesselten wurde pauschal wegen schweren Landfriedensbruchs ermittelt. Die Staatsanwaltschaft erhob zusätzlich den Vorwurf des versuchten Mordes, um die massiven Maßnahmen zu rechtfertigen – ein durchschaubares Mittel zur Legitimation staatlicher Repression. Ermittlungen gegen Polizist*innen wurden rasch eingestellt.

Während hunderte Verfahren gegen Versammlungsteilnehmer*innen ohne mediale Beachtung eingestellt werden, weil keine Tat nachgewiesen werden kann, bleibt die Aufarbeitung schleppend – Gerechtigkeit ist nicht in Sicht.

Einschüchterung durch Justiz und Polizei

Besonders perfide: Hausdurchsuchungen bei Journalist*innen trotz Presseausweises – später als rechtswidrig erklärt. Einschüchterungsversuche gegen Sozialarbeiter*innen, die sich öffentlich kritisch äußerten, gipfelten in Hausdurchsuchungen, Verurteilungen und der Drohung, Fördergelder zu entziehen.

Auch der Versammlungsleiter wurde kriminalisiert – wegen kritischer Tweets über den vermummten Staatsanwalt erhielt er einen Strafbefehl über 80 Tagessätze.

Ein Rechtsstaat?

Ein autoritär agierender Staat, der mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Politik im Gleichklang agiert, eigene Regeln schafft und jede Rechenschaft verweigert, zeigt: Die Verteidigung von Demokratie, Freiheits- und Menschenrechten ist in Deutschland nicht garantiert.

Die ersten verwaltungsgerichtlichen Urteile bestätigen: Die Einkesselung war rechtswidrig. Die Stadt Leipzig und die Polizei schieben sich seither gegenseitig die Verantwortung zu. Die Ermittlungen gegen Teilnehmer*innen werden still eingestellt – nicht aber die Erzählung vom „Linksterrorismus“, die durch Politik und Behörden weitergesponnen wird.