Update – Die (neo) nationalsozialistische Szene in Leipzig

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Eine aktualisierte Version des Textes über die Entwicklung der sich selbst als “parteifrei” bezeichnenden (neo)nationalsozialistischen Szene in Leipzig, ihr Weg in die Funktionärsebene und ihre gescheiterten Aufmarschversuche in Leipzig. (Juli 2011)

Wurzeln der “Freien Kräfte”

Sich stark an den Berliner und Dortmunder Wurzeln der sich popkulturell gebenden Jugendbewegung der „Autonomen Nationalisten“ orientierend traten die Leipziger „freien“ Neonazis 2007 erstmals öffentlich in Erscheinung, Sie imitier(t)en das, was seit etwa 2002 von der Berliner Kameradschaft „Tor“ als Stil geprägt wurde: eine aktionistische Ausrichtung, ein moderner Stil in der Propaganda-Praxis (etwa Graffiti-Schriftzüge auf Transparenten, Aufklebern und Plakaten) und im Auftreten (in Anleihe an den von der radikalen Linken geprägten „Black-Block-Style“), Kommunikation und Präsentation im Internet und der Verzicht auf eine zu formale Organisationsstruktur. Inhaltlich bezieht sich das insbesondere in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen aktive neonationalsozialistische Netzwerk recht ungefiltert auf nationalsozialistische Inhalte. Es sind die großen Themen, Antikapitalismus oder Anti-Globalisierung, die ganz oben auf ihrer Agenda stehen. Zwischen Aktionsberichten tauchen auf ihren Internetseiten wehleidige epische Versuche über die Lage der Nation, über die Gefahr von Individualisierung und Entgrenzung, die die moderne spätkapitalistische Gesellschaft mit sich bringt, auf. Einen roten Faden durch ihre ideologisch brüchigen Ergüsse stellt zudem das antisemitische Motiv des Finanzkapitals und seiner „Zinsherrschaft“ dar. Der große Gegenentwurf der FKL ist das völkische Kollektiv, eine homogene „Volksgemeinschaft“, die die Reproduktion der Gesellschaft ohne Störfaktoren von außen (Migration) und mit ehrlicher Arbeit sichert. Der selbst formulierte Anspruch kapitalismuskritisch zu sein, macht also nicht viel her: nicht die Aufhebung des Kapitalismus als auf Wertschöpfung durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, auf Leistungsethos und die Entfremdung der Produzierenden vom Produktionsprozess basierendes System ist ihr Ziel, sondern dessen Überführung in die nationale Form.

Publikationen wie auch die aktuellen Demonstrationsaufrufe bezeugen die Inkonsistenz und mangelnde öffentliche Kommunikationsfähigkeit der FKL aka Autonome Nationalisten aka JN. Ihr modernes Erscheinungsbild steht in klarer Opposition zu den alt-nazistischen Inhalten, Aufkleber/Graffiti und Demonstrationen sind Propagandamittel, die die Mehrheit der Bevölkerung eher verschrecken als ansprechen. Die anfängliche Distanz zur lokalen NPD, die inzwischen zur Symbiose geronnen ist, markiert die Schizophrenie des Konzeptes der „Freien Kräfte“ – frei aka autonom und revolutionär können und dürfen sie qua weitestgehender Personalunion mit der lokalen NPD- Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten nicht mehr sein, andererseits ist die Selbsbezeichnung als frei und autonom qua personeller Verschmelzung mit der NPD nichts mehr wert.

Der Weg der „Freien Kräfte Leipzig“

Die FKL formierten sich im klaren Widerspruch zu den alljährlichen Großdemonstrationen des Hamburger Neonazis und „Freier-Widerstand“-Protagonisten Christian Worch. Einen Tag nach dessen schmachvoller Niederlage, einer von lediglich knapp 40 Personen besuchten Demo in Leipzig-Südost, triumphierten sie mit einer ersten Spontanaktion in Leipzig-Grünau, zu der um die 100 Neonazis mobilisiert werden konnten. Die Leipziger Pflänzchen kooperierten hier eng mit den Delitzscher Strukturen. Diese nehmen als „Freies Netz Nordsachsen“ auch heute noch eine Vorreiterrolle ein. Mittels Präsenz bei Veranstaltungen ihres „politischen Gegners“ (die sog. Wortergreifungsstrategie), Propaganda-Aktionen im Stadtbild und gewaltsamen Übergriffen auf alternative Menschen und Projekte kamen die „Freien Kräfte“ Leipzig auf die Beine. Hauptaktionsfeld war in der Anfangsphase der Leipziger Osten.

Langsam aber sicher suchten die FKL die Nähe zur NPD. Der überalterte Leipziger Kreisverband der extrem rechten Partei mag froh über ein solch aktives Nachwuchspotential gewesen sein und sah über den, ihrer eigene eher „bürgernahe“ Strategie durchkreuzenden, offen den Nationalsozialismus verherrlichenden und gewaltfetischisierenden Duktus hinweg. Als Gegenleistung fungierten die Nachwuchskader als Kandidaten auf den Listen der Partei. Beispielsweise in Geithain und Borna zogen gerade die lokalen „Freie Kräfte“-Protagonisten in Geithain bzw. Borna in den Stadtrat ein. Grund dafür war der lokale Bekanntheitsgrad in eher jüngeren Milieus und familiennahen Netzwerken. Die autonome BürgerInnenschreckmentalität wurde dafür in den Hintergrund gerückt. Sicherlich ging das „Freie Netz“, die Vernetzungsplattformm Haupt-Kommunikations-, Mobilisierungs- und Propaganda-Instrument der „Freien Kräfte“ in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, darum auch in den Hochzeiten des Wahlkampfes, von Juli bis Oktober 2009 offline.

Mit zahlreichen kleinen Demonstrationen in Randstadtteilen Leipzigs (Grünau, Anger-Crottendorf/Schönefeld/Reudnitz oder Großzschocher) und einer letztendlich zumindest oberflächlich betrachtet gescheiterten Intervention in eine Kinder-Mord-Fall in Leipzig ebneten die „Freien Kräfte“, die inzwischen die Neugründung der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ initiiert und vollzogen hatten, ihren Weg. Mit der Eröffnung des NPD-Zentrums in der Odermannstraße in Leipzig-Lindenau bekamen sie ihren eigenen Anlaufpunkt und nach den für die in NPD in Leipzig erfolgreichen Wahlkämpfen (Stadtrat und Landtag) ihren Lohn. Mindestens Istvan Repaczki, Anmelder zahlreicher Aufmärsche, wird heute von der NPD-Landtagsfraktion bezahlt. Einer der Urväter der Freien Kräfte bzw. des Freien Netzes, Maik Scheffler aus Delitzsch, ist mittlerweile Stadtrat auf NPD-Ticket, vielmehr aber noch Landesorganisationsleiter und bezieht seinen Lohn seit 2011 ebenfalls über die NPD-Landtagsfraktion. Zudem wurde er auf dem Landesparteitag der NPD im Juli 2011 zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der NPD in Sachsen gewählt.

Systematisches Scheitern: “Großaufmarschversuche am 17.10.2009 und 16.10.2010

Der 17.10.2009 sollte offensichtlich ein Befreiungsschlag werden: eine „nationale Großdemonstration“ ohne Rücksicht auf die Altherrenpartei, von der mann mittlerweile ressourcentechnisch und auch intellektuell abhängig ist, und unter Einbeziehung der auch in Leipzig existenten bzw. verbliebenen parteikritischen Zusammenhänge (2008 hatten sich einzelne „Kameraden“ von den „Freien Kräften“ abgewendet, sie präsentierten sich und ihre Aktionen unter freies-leipzig.org und machten sich in den Wahlkämpfen für einen Wahlboykott, auch gegen die NPD stark. Zum 31.12.2010 wurde das “Freie Leipzig” eingestellt).

Doch daraus wurde nichts. Die unter dem Motto der gleichnamigen Kampagne „Recht auf Zukunft“ firmierende Demonstration wurde durch die erfolgreiche Mobilisierung zivilgesellschaftlicher und antifaschistischer Strukturen ein Flop. Die über 1300 angereisten Neonazis konnten nicht marschieren. Eine fest stehende Blockade zog ihren Demonstrationsstart derart in die Länge, dass bei einzelnen Teilnehmenden die Sicherungen durchbrannten. Der Angriff der Polizei aus Reihen der im Großteil im „Autonomem-Nationalisten“-Style erschienenen Nazis war schlussendlich Anlass für die Auflösung der Versammlung durch die Polizei. Das Wundenlecken danach war groß. Den Organisatoren, allen voran dem inzwischen zum Chef der JN Sachsen aufgestiegene Kumpel Repaczkis, Tommy Naumman, wurden Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit abgesprochen.

Nach dem 17.10. zog Ruhe in die „Freie Kräfte“-Szene ein – zumindest in Leipzig. Viel lieber betätigte mann sich nun bei der geräuschlosen NPD-Strukturaufbauhilfe in der Provinz. Für Wurzen, Torgau, Oschatz und Delitzsch wurde die Gründung von „JN-Stützpunkten“ verkündet.

Derweil stiegen die Leipziger Strukturen zu einem wichtigen Bestandteil des weitestgehend vom „Freien Netz“ gestellten Nazi-Ordnungsdienstes, der beispielsweise bei den Aufmärschen am 13.2. in Dresden und am 1.5. in Zwickau zum Einsatz kam, auf.

In Leipzig selbst liefen und laufen Rekrutierungs- und Strukturkonsolidierungsbemühungen. Mit regelmäßigen Schulungs-, Kampfsport und sonstigen Veranstaltungen konnte mittlerweile neues Klientel an die „Freien Kräfte“, die sich im Internet nun unter dem Label „Aktionsbündnis Leipzig“ präsentieren, gebunden werden. Die Distanz zur lokalen NPD scheint sich vergrößert zu haben. So zeigen die „Jungkameraden“ kein Interesse für das Tun der mittlerweile im Stadtrat sitzenden, ältlichen NPD-Vertreter. Auch bei einer kleinen Sommer-Veranstaltungsreihe in der Odermannstraße 8 ward keiner der Nachwuchskader samt Anhang gesehen.

Die Neuzugänge allerdings mußten bespaßt und das lädierte Image, das aus dem für über 1000 am 17.10.2000 sinnlos angereisten misslungenen Aufmarsch resultiert, endgültig beseitigt werden. Knapp ein Jahr lang wurden auf der Kampagnenwebsite recht-auf-zukunft.tk Wunden geleckt. Außerdem gingen die Nazis vor Gericht: am Verwaltungsgericht Leipzig ist eine Feststellungsforsetzungklage gegen Stadt Leipzig und Land Sachsen anhängig, mit der die Rechtswidrigkeit des nicht erfolgten Verbotes der Aktionen des „Bündnis 17.10.“ (das die Proteste gegen den Aufmarsch initiiert und koordiniert hatte) nachträglich und höchstoffiziell bestätigt werden soll. Ein Jahr lang wurde außerdem mehr oder weniger kryptisch und mit Schmerzen verursachenden Lyrik- bzw. Epik-Versuchen auf den „day after“ hingewiesen. Und er kam.

Für den 16.10.2010 meldeten verschiedene Protagonisten der hiesigen Naziszene insgesamt vier Demonstrationen an. Aus
dem Norden, Südosten, Westen und direkt aus der Mitte der Stadt Leipzig kommend wollten die Nazis eine Art Sternmarsch veranstalten, der sich thematisch auf allen Routen mit dem Thema “Krise” auseinandersetzen sollte. Aus dem Rahmen fiel die vierte und zuletzt angemeldete Route von Enrico Böhm, Protagonist der rechten Fußball-Fangruppe “Blue Caps”. Diese Anmeldung wurde von Stadt und Polizei dann auch zuerst kassiert, da der mehrfach vorbestrafte Anmelder als “unzuverlässig” eingestuft wurde. Doch auch aus den anderen drei Demos wurde nichts. Die Stadt Leipzig legte die drei übrigen Aufmärsche aufgrund polizeilichen Notstands zu einer Kundgebung am Hauptbahnhof zusammen. Die rechtlichen Schritte der Nazi-Anmelder dagegen wurden sowohl vom Verwaltungsgericht Leipzig als auch vom Oberverwaltungsgericht Bestand zurückgewiesen. Knapp über 250 Nazis kamen zu der kläglichen Kundgebung an den Bahnhof, mehr als Tausend protestierten dort. Im gesamten Stadtgebiet hatten sich außerdem Menschen versammelt um gegen erwartete Spontanaufmärsche der Nazis zu protestieren. Eine dieser Ansammlungen von Nazis musste sich ins NPD-Zentrum in der Odermannstraße flüchten und wurde dort von zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen AkteurInnen über Stunden festgesetzt. Und so scheiterte auch dieser 2. Großaufmarschversuch der “neuen Nazigeneration”.

Das Jahr 2011

Versuchten sie ihren Misserfolg kurz nach dem 16.10.2010 noch schön zu reden, wurde um den Jahreswechsel 2010/2011 auf der “Recht auf Zukunft”-Homepage eine realistischere Einschätzung veröffentlicht. Darin wurde zugestanden, dass das Konzept der zerstreuten Kleinst-Spontan-Demonstrationen weder öffentlichkeitswirksam noch befriedigend, sondern ein Zeichen “der eigenen Hilflosigkeit” sei. “Eine weitere Großdemonstration” werde es “in Leipzig zu diesem Thema […] nicht geben”, stattdessen wolle mann andere Wege finden um die Menschen zu erreichen.

Das dürfte im Jahr 2011 nicht gelungen sein. Außer einer Spontandemonstration am Neujahrstag, von der niemand außer den Teilnehmenden etwas mitbekommen haben dürfte, der Beteiligung an auswärtigen Naziaufmärschen (allen voran am 13. und 19.2.2011 in Dresden) und Kleinst-Propaganda-Aktionen im Leipziger Stadtgebiet waren die “Freien Kräfte” nicht bemerkbar. Wohlmöglich haben interne Karrierepläne & Machtkämpfe, antifaschistische Aktionen und Kampagnen, aber auch staatliches Handeln die Nazis in eine handfeste Defensive gebracht. So gab und gibt es im laufenden Jahr wegen widerrechtlicher Nutzung des Nazizentrums in Lindenau bzw. einer verstopften Abwasserableitung Ärger mit Leipziger Ämtern – und hinreichend schlechte Presse. Im Februar wurde zudem direkt auf dem Hauptbahnhof eine spontane Demonstration durch Polizei und GegendemonstrantInnen unterbunden – etwa 500 Nazis hatten sich aus Frust über den gescheiterten “Großaufmarsch” in Dresden in die Züge gesetzt und geplant in Leipzig kompensatorischen Spaß zu haben.

Im März scheiterte einer der führenden Köpfe der Leipziger “Freien Kräfte”, Istvan Repaczki, vor dem Leipziger Landgericht mit der Berufung gegen seine Verurteilung wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung. Am 25.7. steht er wegen des Tatverdachts der gefährlichen Körperverletzung erneut vor Gericht. In beiden Fällen waren die Betroffenen alternative bzw. gegen rechts engagierte Jugendliche.

Das letzte, was ihnen bleibt, ihre Trutzburg in Leipzig-Lindenau, schützen die Nazis gegen Protest – auch mit tätlicher Gewalt. So kam es, wohlmöglich infolge von Demonstrationen und Aktionen gegen das Nazizentrum, im Mai zu gezielten Übergriffen auf Menschen und Locations im Umfeld der Odermannstraße.

Mit der Kundgebung am 20.8.2011 am Völkerschlachtdenkmal wird offensiv die Öffentlichkeit gesucht, was in Leipzig lange nicht der Fall war. Mit einer Mixtur aus RednerInnen sowohl aus dem NPD als auch dem “Freie-Kräfte”-Spektrum, dem NS-Liedermacher Frank Rennicke und drei mehr oder weniger bekannten Rechtsrock-Bands soll am symbolträchtigen Ort des Völkerschlachtdenkmals verschiedensten Nazi-Spektren etwas geboten werden. Eine Kundgebung hat im Denken der Veranstalter wohlmöglich außerdem den Vorteil, dass Blockaden von Demonstrationszügen ausbleiben könnten.

Wenn sie sich da mal nicht irren…

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